Er wolle keinen Palast als Wohnung haben, soll der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau gesagt haben. Seine Begründung: Er würde darin ohnehin nur ein Zimmer bewohnen. So unterschiedlich können Bedürfnisse also sein. Rousseaus Gastgeber Friedrich der Große bewohnte hingegen das Schloss von Sanssouci und hatte eine große Auswahl an Zimmern, Sälen und Empfangshallen. Beide aber, Rousseau und Friedrich, lebten nicht nur nach ihren persönlichen Bedürfnissen, sondern vor allem nach ihren Verhältnissen und den gesellschaftlichen Konventionen. Ein König ohne Palast ist kein König. Ein Philosoph in einem Palast ist kein Philosoph.
Wohnen ist Privatsphäre, in der wir die Zumutungen der Welt hinter uns lassen können. Feste Behausungen bieten Schutz vor Witterung, vor Feinden, sie ermöglichen die Zubereitung und Lagerung von Nahrung sowie Körperpflege. Schon die Höhlenmenschen nutzten für verschiedene Zwecke unterschiedliche Bereiche. Der Mensch definiert hier auch ein Lebensgefühl, also so etwas wie sein Ich. Nicht zuletzt die magischen Jagd-Darstellungen in der Höhle von Lascaux zeigen: Schon vor 20 000 Jahren nutzte er einen Ort zur Kultivierung, Überhöhung seines Seins.
Rückzug ist moderner Luxus
Die Welt ist groß und gefährlich. Zuhause schaffen wir uns einen Ort des Rückzugs, der uns Sicherheit und Behaglichkeit spendet. Der Philosoph Martin Heidegger sprach von einer Wohnung als einem Ort für den individuellen Rückzug, der uns als Gegenpol zu Heimatlosigkeit und „Geworfenheit“ Geborgenheit verschafft. Durch das Gefühl dieser individuellen Geborgenheit werden wir erst fähig, uns wieder dem Öffentlichen zuzuwenden, in dem Gefahren, Konflikte auf uns warten.
Allerdings ist der individuelle Rückzug ein Luxus der jüngeren Geschichte. Davor lebten die Menschen in Gruppen, was ihnen auch Sicherheit bot. Als Gemeinschaft, als Sippe mit vielen Familien waren sie stark.
Die Wohnung einer wie auch immer gearteten Gemeinschaft wiederum ließe sich als Mikrokosmos des Makrokosmos Welt begreifen. In ihr lebt ein Personenverbund, etwa eine Familie, im Kleinen, was in der Welt im Großen geschieht. Die Welt ist die Familie, der öffentliche Raum sind Küche, Bad, Wohn- und Essraum, Rückzugsorte die Schlafzimmer. Auch in der Familie drohen Konflikte im öffentlichen Raum, am Ess- oder Wohnzimmertisch, im eigenen Zimmer sind wir davor sicher.
Loslösung von Wand und Statik
Erst die Architekten des 20. Jahrhunderts haben das so begriffen und in Theorien und Entwürfen umgesetzt. Für wen baue ich? Damit wurde Bauen ein Stück weit ideologisch. Und während im 19. Jahrhundert noch vorwiegend Wohnungen mit ähnlich großen Räumen geschaffen wurden, ermöglichte eine Revolution ein neuartiges Denken mit freien Grundrissen: die Loslösung von statischer Tragkraft, Fassade und räumlicher Aufteilung durch Wände, die durch die Bauhaus-Schule und Le Corbusier gefeiert wurde. Familienleben ließ sich also steuern: Wer kleine individuelle Rückzugsräume und große öffentliche schafft, fördert das Leben in der Gemeinschaft. Wer jedem Familienmitglied Säle baut, während das Wohnzimmer winzig gerät, fördert die Isolation des Individuums.
Das heutige Reihenhaus ist dafür exemplarisch: Der Großraum im Erdgeschoss, in dem Küche, Wohn- und Essbereich ineinander fließen, ist der klassische Raum für die Gemeinschaft. Die kleinen Zimmer indes befinden sich oben und bieten Rückzug. Insofern entspricht die Art des Bauens auch dem Menschenbild des Bauherren. Die Form folgt also nicht nur der Funktion, wie es das Bauhaus definiert hat. Sie folgt auch dem Ideal, der Utopie von einem besseren Zusammenleben.
Idealistische Theorie
Aber nicht nur in Wohnung oder Einfamilienhaus herrschen Ideologie und Menschenbild. Schon der schwäbische Pionier neuen Bauens Hugo Häring erdachte Wohnanlagen und plante Diskussionsräume mit ein. Letztlich ist auch der Heidelberger Stadtteil Emmertsgrund ein ideologisches Projekt. Das Menschenbild des neuen demokratischen Deutschlands vor Augen, entwarfen die Planer Stadtteilbüro, Medienzentrum, Bürgerhaus und sogar Säle für Theater- und Konzertaufführungen gleich idealistisch mit – Rückzugsorte in den Hochhäusern treffen auf Versammlungsorte der Bürger.
Doch viele idealistisch durchdachte Neubaugebiete der Nachkriegszeit sind verkommen, weil niemand in ihnen leben will. Es scheint, als seien mit den gesellschaftlichen Utopien des 20. Jahrhunderts auch die städtebaulichen gestorben. Der aufflammende Historismus (Berliner Schloss, Wiederaufbau der Altstadt Frankfurt) ist nur ein Anfang. Denn was die Architekten des revolutionären Jahrhunderts vernachlässigt haben: Der Mensch braucht, um sich wohlzufühlen, nicht nur räumlich Rückzugsorte. Er braucht sie auch ästhetisch. Je mehr unsere Welt geprägt ist von der immer virtueller werdenden Moderne, desto mehr sehnen wir uns zurück nach dem Kleinen, Feinen, Schmucken.
Info: Dossier unter: morgenweb.de/wohnen
Architekturtheorie
Als Theorie der Baukunst gilt die Architekturtheorie als Bereich der Kunstgeschichte. Sie ordnet in erster Linie Bau-Kunstwerke stilistisch ein.
Im Zentrum steht aber auch die theoretische Auseinandersetzung mit dem Kulturphänomen Architektur. Dazu gehört neben anderem auch das Nachdenken über die Auswirkungen von Architektur auf Umwelt und Mensch und das Betrachten der Architektur als Spiegelbild gesamtgesellschaftlicher Prozesse. Wichtige Theoretiker im 20. Jahrhundert waren die Bauhaus-Architekten und Le Corbusier. dms
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