Mit der größten Spannung dürfte in der neuen Schauspielsaison die Premiere am 29. September erwartet werden. Dann inszeniert Sandra Strunz das Auftragswerk „Der Elefantengeist“ über Altbundeskanzler Helmut Kohl (1930-2017), das Lukas Bärfuss für das Nationaltheater Mannheim geschrieben hat. Im Telefoninterview mit dieser Zeitung gab der Schweizer Dramatiker im Vorfeld der Spielplanpräsentation einen Ausblick auf die Inhalte des Werks.
Herr Bärfuss, der Titel „Der Elefantengeist“ klingt nicht danach, dass sie dem Baumeister der deutschen Einheit und Titanen der Europapolitik in Mannheim ein theatrales Denkmal setzen. Oder?
Lukas Bärfuss: Das hat er gar nicht nötig (lacht). Das wäre, glaube ich, auch gar nicht im Sinne von Doktor Kohl. Der braucht keine Denkmäler. Wir versuchen, in eine Auseinandersetzung zu kommen mit seiner Persönlichkeit. Mit seinen Entscheidungen, mit seiner Zeit, mit den Fragen, die ihn und sein politisches Umfeld beschäftigt haben. Darum muss es gehen.
Das Drama wird also eher eine Charakterstudie, keine chronologische Biografie?
Bärfuss: Charakterstudie ... das gefällt mir gar nicht schlecht. Nur glaube ich nicht sehr an Charakter, eher an Persönlichkeit. Und die Biografien seiner Generation, der „weißen Jahrgänge“, die nicht zur Bundeswehr gehen mussten. 1930 geboren hat er noch die Einberufung bekommen und wurde ausgebildet. Die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs ist sicher bestimmend für diese Generation. Es geht auch um eine historische Auseinandersetzung mit den ersten Jahren der Bundesrepublik. Ansonsten ist die Biografie Helmut Kohls an historischen Ereignissen nicht arm. Aber eine chronologische Erzählweise ist nicht wirklich hilfreich. Am Theater gibt es nur eine Chronologie: die des Abends, den man zusammen verbringt. Es geht mehr um Vorstellungen. Um Dichtung, Metaphern, Verwandlungen - das beschäftigt mich. Ich möchte etwas verstehen.
Hat Sie an dem Auftrag die Nähe des Nationaltheaters zu Kohls Heimat in Oggersheim gereizt?
Bärfuss: Der Dom zu Speyer vielleicht. Mannheim ist wie Ludwigshafen ein sehr interessanter Ort. Ich glaube, er hat bei seiner Hochzeit sogar eine kleine Feier am Nationaltheater ausgerichtet. Der Genius loci (Geist des Ortes) spielt also sicher eine Rolle, aber das war nicht ausschlaggebend.
Sondern?
Bärfuss: Das war eher die mögliche Zusammenarbeit mit Regisseurin Sandra Strunz und meine lange Auseinandersetzung mit der deutschen und europäischen Geschichte.
Wobei vor Helmut Kohls Haustür die Wahrscheinlichkeit eines Skandals größer ist, als wenn Ihr Stück in Berlin, Hamburg oder Zürich Premiere feiern würde.
Bärfuss: Das ist sicher so. Da würde man sich etwas vormachen, wenn man das bestreiten würde. Schließlich gibt es in der Kurpfalz eine Expertise, Menschen, die ihn gekannt haben. Und da können durchaus einige nicht einverstanden sein mit meiner Lesart. Aber das darf mich nicht kümmern. Skandal ist keine künstlerische Kategorie. Es muss schon um eine Virulenz, eine Art ansteckende, giftige Relevanz, gehen. Schließlich gibt es natürlich Dinge, die mich ärgern an dieser Person. Gleichzeitig aber auch Aspekte, die ich bewundere. In dieser Ambivalenz wird man das Stück halten müssen.
Haben Sie Helmut Kohl je persönlich getroffen?
Bärfuss: Nein, leider nie.
Der Titel „Elefantengeist“ klingt nach den Karikaturen zu Kohls Kanzlerzeit. Wie bilden Sie denn seine enorme körperliche Präsenz ab?
Bärfuss: Für uns war von Anfang klar, dass die Person Helmut Kohl nicht darstellbar ist. Da würde der größte Schauspieler scheitern. Wegen der Unverwechselbarkeit Kohls und seiner allgemeinen Bekanntheit. Der ist immer noch in vielen Köpfen enorm präsent und es gibt viele lebendige Erinnerungen an ihn.
Dann bleibt er in Ihrem Stück womöglich tatsächlich ein Geist?
Bärfuss: Das würde ich jetzt noch unkommentiert lassen. Aber es gibt natürlich ganz viel gestisches Material, das sehr interessant ist. Die ganze Physis dieses Menschen und die Art, wie er mit seiner körperlichen Präsenz auch Politik gemacht hat, sind für das Theater etwas ganz Wunderbares. Das hat aber nichts damit zu tun, dass man versucht, die Person darzustellen. Das wäre falsch.
Sind Sie als Schweizer vielleicht so sehr an einem dominanten deutschen Regierungschef interessiert, weil es derlei in Ihrer Heimat gar nicht gibt?
Bärfuss: Das habe ich mir noch gar nicht überlegt. Das könnte natürlich sein. Viel wichtiger ist: Ich bin ein Schriftsteller deutscher Sprache und habe meinen Kulturraum nie auf die Schweiz beschränkt gesehen. Vielmehr habe ich mich immer beteiligt gefühlt an der politischen Auseinandersetzung. Natürlich vor allem kulturell: Ich habe viel in Deutschland gearbeitet, mein Verlag ist in Göttingen. Keine Frage, ich bin ein mindestens halber Deutscher. Das Andere ist, dass es für Ihre Landsleute nicht ganz so einfach ist, in eine Äquidistanz zu dieser Figur zu kommen. Oder Kohl jenseits der Reflexe und Ressentiments einigermaßen gerecht zu beurteilen. Ich glaube, er löst immer noch große Aversionen, aber auch große Bewunderung aus. Für mich als Schweizer ist das etwas temperierter.
Inwiefern?
Bärfuss: Ich habe natürlich eine andere Perspektive. Es gibt Dinge, die ich überhaupt nicht verstehe, die aber für Deutsche gar kein Thema sind. Und umgekehrt.
Zum Beispiel?
Bärfuss: Die ganze Kulinarik, zum Beispiel. Ich habe ein anderes Verhältnis zur deutschen Küche.
Wenn man sich Ihr Gesamtwerk betrachtet, zeichnet sich Vieles durch einen scharfen globalen Blick auf politische Zusammenhänge aus. Zurzeit diskutieren wir wegen Syriens Assad oder der Entstehung des IS im Irak nach Saddam Hussein viel über die Rolle „berechenbarer“ Diktatoren. Die waren schon zu Zeiten des Schahs im Iran ein Instrument der Politikergeneration Kohl. Wie beurteilen Sie das heute? Lag der Westen damals womöglich richtig damit, Schlächter zu hofieren und als Schutzschild aufzurüsten?
Bärfuss: Das ist eine der Fragen, die ich auch habe. Der Blick auf die Weltpolitik ist gerade nicht sehr angenehm. Aber es gibt ja schon lange das Bonmot „Er ist zwar ein Schweinehund, aber er ist unser Schweinehund.“ Die Entfernung des blutigen Diktators Saddam Hussein ist gründlich misslungen. Aber das Ganze fing nicht erst mit ihm an. Die Assads hat man in Syrien seit 1973 machen lassen. Und für die Bundesrepublik war der Schahbesuch 1967 eine Zeitenwende. Genau wie die Islamische Revolution 1979 im Iran. Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass wir da heute schon einen aussagekräftigen Überblick haben. Also würde ich den Teufel tun, und der Generation unserer Väter im Nachhinein sagen, was richtig gewesen wäre. Da gibt es ganz viele unerledigte Hausaufgaben für unsere eigene Generation.
Gibt es Bezüge in Ihrem Stück zu dieser Thematik und Geostrategen vom Schlage Kohl, Strauß und Co.?
Bärfuss: Ich glaube, auch bei Helmut Kohl hat in solchen Fragen die soldatische Tradition eine Rolle gespielt. Das dürfen wir nicht vergessen. Das geht von der Verbundenheit zur Bundeswehr bis ins intimste Biografische. Denken Sie an das Drama um seinen Bruder, der vom Vater aufgefordert wurde, sich als Freiwilliger zu melden. Und dann ist er gefallen. Man braucht nur den Zapfenstreich vor dem Dom zu Speyer noch mal anzusehen. Der steht online. Dann versteht man, wie tief das Militärische in diese Biografie hineingewirkt hat.
2015 hat Ihr Essay „Die Schweiz ist des Wahnsinns“ für eine massive Kontroverse in Ihrer Heimat gesorgt. Wie wahnsinnig ist Deutschland 2018 in Ihren Augen? Womöglich im Vergleich zur Ära Kohl.
Bärfuss: Ich möchte das nicht quantifizieren (lacht). Man sieht aber schon gewisse Entwicklungen, die ich gar nicht alle beim Namen nennen will. Sagen wir es so: Nicht jede politische Haltung ist dem Wohlergehen der Menschen zuträglich. Und es gibt viele destruktive Kräfte, nicht alle sind am Tisch versammelt, um in Frieden und Minne Lösungen zu finden. Gesellschaften sind generell nie weit weg vom Wahnsinn. Die Einhegung, die Auseinandersetzung mit den Grenzbereichen der gesellschaftlichen Psyche, ist etwas ganz Wichtiges. Das Irrationale ist nicht aus der deutschen Politik verschwunden. Überhaupt nicht. Und man tut gut daran, sich dem zu stellen.
Dass eine konservative Partei rechts von der Union entsteht, wäre unter Kohl und Strauß undenkbar gewesen, oder?
Bärfuss: Hätte, wäre, Fahrradkette ... Die Republikaner gab es auch. Und man darf nicht vergessen, dass Deutschland in der Zeit von Helmut Kohl mit einem mörderischen Linksradikalismus konfrontiert war. Das Gewaltpotenzial war schon damals da. In der Auseinandersetzung mit der AfD stelle ich in Deutschland häufig eine Reaktion fest, die es in der Schweiz vor 20 Jahren gab, als Rechtspopulisten eine Rolle zu spielen begannen: erstmal ignorieren, dann diabolisieren. Beides ist nicht erfolgversprechend, das hat sich in der Schweiz gezeigt. Und auch diese Leute haben eine Stimme - das ist in der Demokratie das Unangenehme, dass nicht alle derselben Meinung sind und man etwas damit anfangen muss (lacht). Das Wichtigste ist: Man muss zusehen, dass sie in der Minderheit bleiben. Denn in der Demokratie entscheidet immer noch die Mehrheit.
Was schlagen Sie vor?
Bärfuss; Das Einzige, das hilft, ist die politische Auseinandersetzung: Argumente auf den Tisch legen, Begriffe schärfen und ein Bewusstsein bilden für Zusammenhänge. Flüchtlingspolitik und europäische Wirtschaftspolitik zum Beispiel kann man gar nicht isoliert betrachten. Man muss die Kärrnerarbeit auf sich nehmen, die Dinge in Zusammenhängen zu erklären. Das bleibt die Aufgabe!
Der Schweizer und der Kanzler
- Lukas Bärfuss wurde am 30. Dezember 1971 im schweizerischen Thun geboren. Nach neun Jahren Primärschule arbeitete er in diversen Berufen und fand als Buchhändler 1997 den Weg zur Schriftstellerei. Seit 1998 ist er als Dramatiker gefragt, „Koala“ (2014) ist sein größter Romanerfolg. 2011 gab es am NTM die deutsche Erstaufführung des Bärfuss-Dramas „Malaga“.
- Am 29. September feiert „Der Elefantengeist“ über CDU-Bundeskanzler Helmut Kohl (Archivbild von 1982) Premiere.
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