Wenn Lucia Leidenfrost läuft, werden ihre Gedanken frei. Die Idee, die tagelang in ihr schlummerte, entwickelt sie beim Joggen am Rhein. Laufend dreht und wendet sie diese in einem Satz, bis er ihren Vorstellungen entspricht und im Gedächtnis bleibt. Dann baut sie noch einen Satz darum herum, sucht nach den richtigen Worten, fügt einen dritten hinzu – und macht das so lange, bis ihre Ursprungsidee in – für sie – perfekte Sätze „geschliffen wird“. Leidenfrost ist Schriftstellerin, aber so wollte sie anfangs gar nicht bezeichnet werden. „Das war ein komisches Gefühl“, sagt die 28-Jährige lachend. Sie wollte eigentlich nur lesen und schreiben.
Mit Sprache wurde Leidenfrost konfrontiert, da war sie nicht einmal fünf Jahre alt. Als jüngste Tochter einer Seelsorgerin und eines Förderschullehrers besuchte sie einen Integrationskindergarten, sechs Gehörlose und sechs Hörende waren in der Klasse. Die erste Sprache, die sie bewusst lernte? Sich nur mit Händen zu verständigen. „Ich war erstmals fasziniert, wie Sprache so funktioniert“, erzählt sie heute. Leidenfrost wuchs im oberösterreichischen Frankenmarkt auf. In einem kleinen Dorf wie diesem habe man immer wieder von Geschichten gehört, die man nicht erzählen durfte – wie Misshandlungen in Familien. Auch ihr Großvater habe ihr viel erzählt, vom Krieg und Nationalsozialismus, „aber nie über alles, gewissermaßen um sich selbst zu schützen“, erinnert sich die 28-Jährige. Ihre Großmutter habe stets wütend gesagt, dass er aufhören solle, ständig von Leid und Unrecht zu erzählen. „Es ist aber wichtig, betonte mein Opa damals. Aber gleichzeitig widersprach er sich, weil er es eben nie ganz schaffte, alles zu erzählen“, sagt sie.
Stimmen einer Kriegsgeneration
Das „Nicht-Erzählen-Können“ – das ist auch Thema ihres ersten Buches „Mir ist die Zunge so schwer“, das vergangenes Jahr bei Kremayr & Scheriau erschien. Es ist eine Art Sammlung von Erinnerungsfragmenten. Die Figuren, die in 18 Kurzgeschichten zu Worte kommen, haben lange nicht gesprochen – und bringen Vergangenes erstmals ans Licht. Die Geschichten handeln vom Zweiten Weltkrieg, drehen sich um Geheimnisse, Liebe, Schuld und um Verrat. Mit viel Feingefühl, einer einfachen Sprache und fast schon melancholisch arbeitet Leidenfrost die Nachkriegszeit fiktiv auf. Einer dieser Geschichten – „Gefangenspielen“ – erschien schon vor der Veröffentlichung ihres Erzählbandes in der Literaturzeitschrift kolik. Leidenfrost studierte in dieser Zeit Germanistik und Skandinavistik in Tübingen, besuchte Seminare am Studio Literatur und Theater und erhielt auch zugleich das Startstipendium für junge Künstler. Ihr aktueller Verlag wurde auf sie aufmerksam und „mit ein bisschen Glück“, so Leidenfrost, wurde aus einer Geschichte ein ganzes Buch.
Seit 2015 lebt die 28-Jährige mit ihrem Mann in den Mannheimer Quadraten. Sie arbeitete am Institut für Deutsche Sprache, gründete das Kollektiv Junge Literatur und gibt seit einiger Zeit Integrationskurse an der Mannheimer Abendakademie. Aber davor wird geschrieben: „Minimum eine halbe Stunde vor dem Frühstück“, sagt sie. „Mein Geist und meine Finger wissen längst Bescheid. Das Schreiben ist ihre Tätigkeit, davor gibt’s kein Essen“, sagt sie lachend. Natürlich: Sie produziere auch mal schlechte Seiten, die sie als „Abfall“ bezeichnet. „Aber statt sie wegzuschmeißen, lasse ich die Seiten mal für eine Woche liegen. Oder spreche mit anderen Schreibern darüber, lese sie mal laut vor und verbessere nach und nach.“ Das Phänomen „Schreibblockade“ sieht sie ebenfalls entspannt. „Da mache ich mich nicht verrückt“, sagt Leidenfrost. Sie nehme sich stattdessen ein Buch zur Hand – am liebsten von Roberto Bolaño oder David Grossmann. „Lesen ist für mich genauso wichtig wie das Schreiben.“
Dörfer mit verlassenen Kindern
Ihr größtes Ziel? Das nächste Buch. „Ein Roman namens ,Wir verlassenen Kinder’“, sagt die 28-Jährige. In mehreren Perspektiven erzählt die junge Autorin von Kindern, die auf sich selbst gestellt sind und ohne eine Familie groß werden. „Auf das Thema stieß ich, als ich ehrenamtlich für Amnesty International arbeitete“, so Leidenfrost. Nach und nach beschäftigte sie sich mit dem Thema, sah sich Dokumentationen an und erfuhr von ganzen Dörfern – in Nepal, der Republik Moldau – mit tausenden verlassenen Kindern. „Das Thema schlummerte Jahre in mir“, sagt Leidenfrost und erzählt, dass sie vergangenes Jahr begann, darüber eine Geschichte zu schreiben. „Der Anfang und das Ende sind schon fertig“, sagt sie lächelnd. Und der Rest? Erscheint im Jahr 2020.
Theater, Liebe und Stipendien
- Lucia Leidenfrost spielte in der Volksschule und im Gymnasium viel Theater und schrieb auch einige Stücke. Ihr Text „Schöne alte Welt“ wurde als Grundlage für ein Schauspiel genommen und bei einem Theaterfestival in Linz aufgeführt.
- Nach der Schule ging sie „der Liebe wegen“ nach Tübingen. An der Eberhard-Karls-Universität studierte sie Germanistik und Skandinavistik, anschließend Germanistische Linguistik im Master.
- Sie erhielt unter anderem den Anerkennungspreis U19 beim Marianne-von-Willemer-Preis und bekam das Start-Stipendium des Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung (BMUKK) für Literatur sowie das Arbeitsstipendium des Förderkreises deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg.
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