Sichtweisen - Mit „Mondenkind“ hat Deutschlands begabtester Jazzpianist sein erstes Soloalbum vorgelegt – eine Betrachtung von zwei Seiten aus

Zwei Sichtweisen: Ist Michael Wollny ein Jazzer?

Von 
Georg Spindler und Stefan M. Dettlinger
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Jazz-Pianist Michael Wollny.

© Rinderspacher

Michael Wollny (42) ist sicher der interessanteste Pianist im neuen deutschen Jazz – international bekannt wurde er mit dem Trio [em]. Aber ist der vielfach ausgezeichnete Überflieger aus Schweinfurt überhaupt ein lupenreiner Jazzer? In seinen Improvisationen und Kompositionen vereint er, ähnlich wie Keith Jarrett, viele Stile, Epochen und Einflüsse – mit ganz anderem Ergebnis. Wir betrachten Wollny anhand seines jüngsten Soloalbums „Mondenkind“, das er zum Abschluss des Enjoy-Jazz-Festivals in der Mannheimer Christuskirche spielen sollte, von zwei Seiten: aus klassischer Perspektive und aus der des Jazzers. Was da passiert? Wir sind selbst gespannt.

Vom Klassiker - Stefan M. Dettlinger

Für mich gibt es im Jazz selten, aber immer wieder ein Ärgernis. Es heißt Beliebigkeit. Ich liebe Jazz, weil er, wie Jazzer oft sagen, die demokratischste Musik ist. Und ich hasse Jazz, wenn er allzu demokratisch wird und sich gewissermaßen in seiner Demokratisierung versteigert, im Kreis dreht und an Struktur und Spannungsbogen verliert. Selbst bei meinem Welthelden Keith Jarrett gab und gibt es diese Momente. Ich als klassisch geschulter Musiker, der sich intensiv mit zeitgenössischer Komposition auseinandergesetzt hat, vermisse dann ganz einfach das, was eine stringente Komposition ist.

Michael Wollny, Deutschlands erster Pianist im Genre, arbeitet dagegen an. Auf seinem aktuellen Soloalbum findet er eine (fast) perfekte Balance zwischen Freiheit und Form, was auch daran liegt, dass er sich nicht, wie Jarrett in seinen Solokonzerten, ganz auf Intuition verlässt, sondern strukturierter Komposition und Form viel Raum einräumt. Ein Satz aus Rudolf Hindemiths zwischen modernistischer Atonalität und synkopenreichem Jazzbluesidiom irisierender Sonatine sticht da heraus – als formvollendeter Beitrag der Strenge.

Es gibt andere: Tori Amos’ „Father Lucifer“, bei dem Wollny das harmonische Schema derart hervorhebt, dass man den Eindruck hat, vier Minuten einen Teil der Deutschlandhymne zu hören. Oder auch Wollnys „Mondenkind“, das stärkste Stück. Auch hier überwiegt die Form, wenngleich sie durch anfangs körper- und schwerelose Pedallandschaften bisweilen dunkel und wolkig erscheint. Wollny steigert dieses Porträt des „vermutlich einsamsten Menschen aller Zeiten“ (Michael Collins bei der Mondumrundung 1969) mit Griffen in die Saiten zu einer gespenstischen Rotationsromantik mit rollenden Tritonus-Schritten und reichlich Mystery-Schauern. Großartig, wenngleich rückwärtsgewandt in seiner Stilistik.

Wollny mixt sehr klug spätromantische Einflüsse mit den Materialitäten des frühen 20. Jahrhunderts: Schönberg, mehr noch Messiaen oder auch Skrjabin und Rachmaninow. Zum Erlebnis wird die Musik freilich auch durch Wollnys differenziert-feinen Anschlag und die ahnungsdrängende Phrasierung, die, etwa in „Sagée“, durchaus auch mal kurz an Jarrett erinnert, der auch für Wollny Inspiration ist.

Unter dem Strich gerät nur wenig etwas kitschig („Velvet Gloves“) und – sehr wichtig – nichts beliebig. Alles ist konzentriert. Jeder Ton hat Sinn. Es gibt kein Zuviel. Ist das noch Jazz? Für jemanden ohne Genregrenzen spielt das keine Rolle, es ist nicht weniger als sehr gute Musik.

Vom Jazzer - Georg Spindler

Irritiert. So reagiere ich auf Michael Wollnys neues Album. Ich habe ihn oft live gesehen, war stets begeistert von seiner Energie, Rasanz und stilistischen Offenheit. Aber „Mondenkind“ lässt mich emotional kalt.

Vielleicht weil die Musik zu klassisch-europäisch ist in ihrer Diktion? Ich vermisse dabei den Swing, jene rhythmische Leichtigkeit, die mich einst zum Jazz gebracht hat und die ich in all seinen alten wie neuen Stilformen schätze. Sie ist hier selten spürbar, witzigerweise mit am stärksten in der „Sonatine Nr. 7/2. Satz“ von Rudolf Hindemith, die klingt, als sei sie improvisiert. Die rollenden, zupackend perkussiven Basslinien, die quirligen, in ihrer stechenden Schärfe wie graviert klingenden Tonfolgen in den Höhen, das hat jene expressive Qualität, die ich als Hörer suche.

Es sind die liedhaften Vorlagen, die mich besonders ansprechen: das bittersüße „Father Lucifer“ von Tori Amos, das Wollny harmonisch wunderbar verfremdet. Oder Alban Bergs choralartiges, düster und erlöst zugleich klingendes „Schließe mir die Augen beide“, bei dem Wollny ebenfalls spannungsvoll am Formgerüst rüttelt. Jazz ist für mich die Kunst, das musikalische Material zu transformieren, in Neues zu verwandeln.

Generell bringt mich das Album zum Nachdenken darüber, was ich an Musik schätze – und was nicht. Effekthascherei zum Beispiel. Etwa die immer gleichen, metronomartig in die Tastatur gemeißelten Diskant-Töne im Titelstück: grell, aufgesetzt. Als der Jazz noch eine kanonisierte Kunstform war, hätte man gesagt: zickig. Ähnlich gestelzt: die überkandidelten Dissonanzen in „Enter Three Witches“.

Auch mit dem Gesamtaufbau der Platte kann ich mich wenig anfreunden. Sie fügt sich nicht, was ich von einem Album erwarte, zu einem Ganzen. Zu viel ist da episodenhaft und fragmentarisch, Ideen werden in Kurzstücken wie in „The Rain Never Stops On Venus“ mit seinen kullernden Single-Note-Kaskaden oft nur angespielt; da wäre doch viel mehr möglich gewesen.

Das Grundthema der Lockdown-Einsamkeit ist für mich am stärksten spürbar in „Sagée“: Eine Studie der Entschleunigung, bei der Wollny Akkorde treiben lässt wie Brocken im Eismeer und sie von verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet wie ein Wissenschaftler. Aber all dies ist meine ganz persönliche Ansicht. Möge jeder selbst entscheiden, wie ihm diese Platte gefällt. Ich brauchte nach dem Anhören zur Vitalisierung jedenfalls eine Solo-CD von Cecil Taylor, dann eine mit Paul Bleys Meditationen über das Alleinsein. Das ist Musik, die mich berührt.

Redaktion

Ressortleitung Stefan M. Dettlinger leitet das Kulturressort des „MM“ seit 2006.

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