Richterin Ulrike Schrage bringt gleich zu Beginn der knapp 45-minütigen Urteilsbegründung das Ergebnis der Beweisaufnahme auf den Punkt: „Sie wollten sich zum Opfer des Kindes machen“, sagt sie mit Blick auf die Angeklagten. „Sie haben zum Teil absurde Erklärungen abgeliefert“. Das Ehepaar, ein 44-Jähriger und seine gleichaltrige Frau, muss, so hat es die Kammer nach drei Verhandlungstagen entschieden, ins Gefängnis. Der Mann wegen vorsätzlicher Körperverletzung mit Misshandlung Schutzbefohlener für drei Jahre, seine Frau wegen gefährlicher Körperverletzung mit Misshandlung Schutzbefohlener für drei Jahre und elf Monate. Die Verteidigung hatte Freispruch gefordert, der Staatsanwalt sogar vier Jahre Haft.
Frau soll die „Aktive“ gewesen sein
Bis zum Schluss bestritt das Paar sämtliche Vorwürfe vehement. Doch nach der Beweisaufnahme ist sich das Gericht sicher, dass sie für die schweren Verletzungen verantwortlich sind, mit denen ihr dreijähriges Pflegekind im September 2017 ins Mannheimer Klinikum eingewiesen wurde. Dabei sieht die Kammer, wie es die Vorsitzende betont, die Frau als die „ganz Aktive“, den Mann mehr als denjenigen, der zugeschaut und Hilfe unterlassen hat.
In der ausführlichen Befragung der Angeklagten am ersten Prozesstag, zu der nach einem Antrag des Verteidigers weder Presse noch Publikum zugelassen war, hätten die beiden angegeben, dass sich der Dreijährige regelmäßig selbst verletzt habe. Er sei stark verhaltensauffällig gewesen, habe das Essen verweigert und sie sogar selbst angegriffen. So gibt die Vorsitzende die Aussagen der Angeklagten wieder. „In diesem Prozess konnten wir alle diese Erklärungen widerlegen“, betont Richterin Schrage nun. Laut und deutlich beschreibt sie den Weg zum Urteil. Phasenweise wortlautgetreu gibt sie Zeugenaussagen und Erkenntnisse aus Gutachten wieder. Manchmal – nach besonders emotionalen Aussagen – lässt sie einige Sekunden vergehen, bevor sie weiterspricht. Und immer wieder sieht sie die Angeklagten direkt an. Der Mann rührt sich kaum, sucht ab und an den Austausch mit seinem Verteidiger. Seine Frau dagegen wirkt nervös. Ihre Pulloverärmel hat sie über die Hände gezogen, darauf stützt sie ihr Kinn. „In der Nacht, bevor der Kleine ins Klinikum kam, haben Sie ihm mit der Faust ins Gesicht geschlagen“, sagt die Richterin in ihre Richtung.
Entdeckt wurde der Zustand des Kleinen von der Pflegemutter, die ihn betreut hatte, bevor der Junge im Dezember 2016 zu den nun Angeklagten kam. Er sollte dort mit den beiden leiblichen Kindern des Paares dauerhaft in einer richtigen Familie aufwachsen. Sie habe von Anfang an beim Jugendamt Bedenken zu der Unterbringung geäußert und den Jungen deshalb immer mal wieder besucht. Das habe sie als Zeugin erklärt, sagt sie Richterin.
Als sie am 13. September 2017 gekommen sei, habe er ein blau-grünes, vollkommen zugeschwollenes Gesicht gehabt. Sie sei geschockt gewesen, auch weil er extrem abgemagert aussah. Daraufhin rief sie das Jugendamt an, das den Jungen abholte und ins Klinikum brachte. Platzwunden und Hämatome im Gesicht, eine Leberprellung, innere Blutungen und mehrere Frakturen stellten die Ärzte dort fest.
Eiskalt abgeduscht
Besonders auffällig waren die Hände des Jungen. Das hätten Lichtbilder bewiesen, „die wir anschauen mussten“, sagt die Richterin: „Sie waren angeschwollen und mehrfach gebrochen. Damit kann sich niemand selbst verletzen.“ Vielmehr, so habe es eine Sachverständige vor Gericht erklärt, muss jemand mit einem Gegenstand, es könnte ein Kochlöffel gewesen sein, mit wirklich sehr großer Wucht darauf geschlagen haben.
Alle Zeugen hätten berichtet, dass der Dreijährige immer guten, fast auffällig großen Appetit gehabt habe. „Im Klinikum nahm er innerhalb weniger Tage sehr schnell zu“, berichtet Schrage: „Sie haben den Jungen bestraft, indem Sie ihm Essen verweigert haben.“ Zu Maßregelung habe die Angeklagte den Kleinen zudem öfter eiskalt abgeduscht.
Der Junge lebt heute wieder bei seiner ersten Pflegemutter. Er mache nun eine Traumatherapie, berichtet Schrage, langsam gebe es erste Fortschritte. „Was das alles mit der Seele des Jungen gemacht hat. Das wissen wir noch gar nicht“, macht sie sie zum Schluss deutlich. Und dann stellt sie die Frage, die im Prozess nicht habe geklärt werden können: „Hätte es die Möglichkeit gegeben, früher einzugreifen?“
Leibliche Mutter als Nebenklägerin
- Die leibliche Mutter des mittlerweile Fünfjährigen verfolgte den Prozess als Nebenklägerin. Begleitet wurde sie von ihrer Anwältin Sabrina Hausen.
- Die Mutter hatte den Jungen kurz nach der Geburt abgegeben, weil sie selbst noch sehr jung ist. Zunächst lebte das Kind bei der Oma , dann bei einer Pflegemutter, jedoch nur vorübergehend zur Bereitschaftspflege.
- Zu dem nun angeklagten Ehepaar kam der Kleine, weil das Jugendamt dem Jungen das Aufwachsen in einer „normalen“ Familie mit Geschwistern ermöglichen wollte.
- Der Kontakt zur Mutter sollte aber immer bestehenbleiben, auch der zur vorherigen Pflegemutter. Bis Juli 2017 habe das auch regelmäßig geklappt, bestätigt Anwältin Sabrina Hausen. Danach seien die Besuche allerdings boykottiert worden. Dafür habe es immer Erklärungen gegeben – Arztbesuche oder ähnliches.
- Die leibliche Mutter hat nun wieder regelmäßigen Kontakt zu ihrem Kind, selbst versorgen können wird sie es in absehbarer Zeit nicht. abo
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