Gedenktag Deportation - Historikerin Karola Fings kritisiert, dass die Verfolgung von Sinti und Roma während der NS-Zeit nicht ausreichend aufgearbeitet wurde

„Feindbild Zigeuner ist stark verankert“

Von 
Markus Mertens
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Der 16. Mai ist für die Sinti und Roma in Deutschland aus zweierlei Hinsicht ein Tag von historischem Schmerz: Neben der Opfer der Deportationen 1940 wird auch des Aufstands gedacht, der 1944 im sogenannten Zigeunerlager des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau niedergeschlagen wurde. Vor den Gedenkveranstaltungen, die der Landesverband Deutscher Sinti und Roma am Donnerstag in Mannheim abhält, hat der „MM“ mit Geschichtsexpertin Karola Fings über das Ausmaß der Kriegsverbrechen und den Kampf gegen die Klischees gesprochen.

Frau Fings, der heutige Gedenktag beschäftigt sich mit Deportationen von Sinti und Roma, die in der breiten gesellschaftlichen Wahrnehmung kaum noch präsent sind. Warum ist das so?

Karola Fings: Die Verfolgung der Sinti und Roma ist vor allem deswegen verleugnet, verdrängt und vergessen worden, weil nach 1945 die Täter das Erinnern auf die NS-Zeit bestimmt haben. Im Gegensatz zur Deportation der jüdischen Bevölkerung war es hier maßgeblich die Kriminalpolizei, die die Verfolgung vorangetrieben hat. Und die Kriminalisten haben – nicht zuletzt, um sich selbst vor Strafverfolgung zu schützen – behauptet, es habe keine rassischen Gründe gegeben. Da sich dies durchaus mit der Meinung der Mehrheitsbevölkerung deckte, hat man die Verfolgung nicht als genuines nationalsozialistisches Verbrechen und erst recht nicht als Völkermord anerkannt.

Erinnert wird auch an den Aufstand im sogenannten Zigeunerlager von Auschwitz. Können Sie sich erklären, warum dieses historische Phänomen selbst wissenschaftlich kaum aufgearbeitet ist?

Fings: Die Ereignisse vom 16. Mai 1944 werden unter Historikern durchaus diskutiert, aber eben von einem sehr kleinen Zirkel. Schon die Tatsache, dass ab Frühjahr 1943 systematisch alle noch in Deutschland lebenden Sinti und Roma nach Auschwitz deportiert und dort um ihr Leben gebracht wurden, ist kaum bekannt.

Und der Aufstand 1944?

Fings: Als den Gefangenen deutlich wurde, dass die Räumung des Lagers erfolgen sollte – was gleichbedeutend mit dem Mord in den Gaskammern war –, haben sie sich nach Angaben eines ehemaligen polnischen Häftlings massiv zur Wehr gesetzt. Es fehlen jedoch Quellen, die eine genauere Rekonstruktion des Geschehens ermöglichen würden. Leider hat man sich zu lange nicht dafür interessiert, Überlebende dazu zu Wort kommen zu lassen. Die Morde in Auschwitz-Birkenau, die mit der Liquidierung des Lagers in der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 vollendet wurden, sind der traurige Höhepunkt der Verfolgungsgeschichte und somit auch der zentrale Leidensort deutscher Sinti und Roma. Das sollte bekannter sein, als es heute ist.

Ist es für die Nationalsozialisten, aber auch für die bürgerliche Gesellschaft vermeintlich besonders einfach gewesen, Sinti und Roma mit ihrem Ruf als Landfahrende zu kriminalisieren?

Fings: Es gab gegenüber der Minderheit ebenso tiefsitzende und Jahrhunderte alte Vorurteile wie gegenüber der jüdischen Bevölkerung. Dieses Phänomen wird heute als Antiziganismus bezeichnet und untersucht. Während Antisemitismus nach 1945 weitgehend geächtet wurde, wurden Sinti und Roma weiter diskriminiert, oftmals sogar auf skandalöse Art und Weise von den NS-Tätern. Antiziganismus beinhaltet nicht nur die diffamierenden Aspekte, sondern eben auch Stereotype wie das von der „rassigen Zigeunerin“. Bis heute wird zwischen den antiziganistischen Fantasien und den realen Personen nicht getrennt. Dabei lebten die Angehörigen der Minderheit, gegen die sich die NS-Propaganda richtete, weitgehend unauffällig inmitten der Gesellschaft. Aber genau das wollte das NS-Regime verhindern.

Wie konkret äußerte sich diese Strategie?

Fings: Für die Verfolgung wurde in Umsetzung der berüchtigten „Nürnberger Gesetze“ eine rassistische Totalerfassung aller Sinti und Roma durchgeführt. Wer einmal als „Zigeuner“ in die Fänge der Kripo geriet, wurde für Deportation oder Zwangssterilisation vorgesehen. Die Rassenpolitik zielte auf eine Auslöschung der Minderheit als Ganzes – und zwar unabhängig davon, ob Sinti nun angepasst und unsichtbar in der Gesellschaft lebten, ob sie reich oder arm, blond oder schwarzhaarig, Mann, Frau oder Kind waren.

Auch in Mannheim lebten seinerzeit, aber auch heute zahlreiche Sinti und Roma, die sich nach wie vor mit Vorurteilen auseinandersetzen müssen. Haben wir aus der Geschichte nichts gelernt?

Fings: Aus der Geschichte zu lernen, ist eine Daueraufgabe, da jede Generation sich der Vergangenheit neu vergewissern muss. Was den Völkermord an den Sinti und Roma angeht, fehlt es einerseits noch an Wissen, andererseits an einer guten Vermittlungsarbeit in Schulen und Universitäten. Darüber hinaus würde sich die Lebenssituation von Sinti und Roma allein schon dadurch deutlich verbessern lassen, wenn der alltägliche und strukturelle Antiziganismus abgebaut würde. Allein dies würde den eigentlich selbstverständlichen Zugang zu Bildung, Wohnen, Arbeit und Gesundheit für alle verbessern. Daher ist es eine Aufgabe der Mehrheitsgesellschaft, sich mit ihren Feindbildern auseinanderzusetzen. Angesichts des begangenen Völkermordes ist es sogar als eine Pflicht anzusehen. Insofern ist es nur zu begrüßen, dass nun von der Bundesregierung eine Kommission dazu eingesetzt wurde.

Machen Ihnen konservativer werdende Strömungen Sorge?

Fings: Leider ist das Feindbild „Zigeuner“ heute wie damals so stark in der Gesellschaft verankert, dass es sich leicht für rassistische Mobilisierungen nutzen lässt – das wissen auch diejenigen, die mit nationalistischen und rassistischen Parolen gegen unsere pluralistische Demokratie angehen. Gerade deshalb müssen wir uns vor Feindbildern schützen und mit Antiziganismus befassen.

Das Interview wurde telefonisch geführt und der Gesprächspartnerin zur Autorisierung vorgelegt.

Zwei Diskussionsrunden

  • Am 16. Mai 1940 begann die familienweise Deportierung von insgesamt 2800 Sinti und Roma in das besetzte Polen. Zudem begeht der in Mannheim sitzende Landesverband Deutscher Sinti und Roma den 75. Jahrestag des Aufstandes vom 16. Mai 1944 im „Zigeunerlager“ von Auschwitz-Birkenau.
  • Am Donnerstag veranstaltet der Landesverband mit dem Stadtarchiv von 12.30 bis 14 Uhr die Podiumsdiskussion „Ein Gespräch über das Gedenken“ im Marchivum.
  • Dort spricht die 1962 in Leverkusen geborene Historikerin Karola Fings. Sie gilt als Expertin für den Völkermord an Sinti und Roma und ist Mitglied der Unabhängigen Kommission Antiziganismus der Bundesregierung.
  • Am Abend findet um 18 Uhr im Kulturhaus Romnokher (B 7, 16) außerdem eine Diskussionsveranstaltung mit Kindern von Überlebenden der NS-Zeit statt. Der Eintritt ist frei. mer

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