Eigentlich spielt sich an diesem Mittwochabend, am 3. April, nichts Besonderes auf den Bildschirmen ab. Bis der Videobeobachter der Polizei gegen 22.40 Uhr plötzlich zwei Männer an der Haltestelle am Alten Meßplatz entdeckt, die auf die Straßenbahn warten. Einer davon steht mit seiner Begleitung nahe an den Schienen, bemerkt den 18-Jährigen nicht, der hinter ihm steht. Als die Straßenbahn einfährt, spielt sich vor den Augen des Beamten, davon ist er zu diesem Zeitpunkt noch überzeugt, eine Straftat ab: Mit einer schnellen Bewegung rempelt der 18-Jährige den Wartenden an, der das Gleichgewicht verliert und Richtung Schienen taumelt – da greift der Videobeobachter schon zum Hörer.
Obwohl der Mann sich mit einem Ausfallschritt abfangen kann, ist die Streife Minuten später vor Ort und nimmt den 18-Jährigen fest. Bei den Ermittlungen klärt sich später auf: alles ein Versehen, statt tödliches Kalkül – so berichtet es Polizeisprecher Markus Winter. „Im Zweifel rücken wir lieber einmal zu oft aus“, sagt der Beamte. Insgesamt 318 Einsätze hat es laut Winter durch die Videoüberwachung zwischen Januar und Juli 2019 gegeben, dabei wurden 171 Straftaten erfasst. Zu den Einsätzen zählt die Polizei nicht nur das Ausrücken der Interventionsstreife. Sondern auch, wenn ein Opfer Anzeige erstattet und daraufhin die Bilder der Überwachungskameras überprüft werden. Weil diese 72 Stunden gespeichert bleiben, so die Erklärung der Polizei, könne man im Nachgang Täter identifizieren.
Zweifel an Wirkung von Software
Die Videos sollen laut Polizei auch als Beweismaterial vor Gericht dienen, wie bei einem Fall am 25. Mai: Auf dem Bahnhofsvorplatz hatten zwei junge Männer nachts auf einen 31-Jährigen eingeschlagen. Allerdings hatte der Videobeobachter den Vorfall nicht entdeckt – vielmehr alarmierte die Bundespolizei die Interventionsstreife, die Männer wurden festgenommen. Gegen sie läuft ein Verfahren wegen schwerer Körperverletzung. Während die Polizei optimistisch damit rechnet, dass Ende des Jahres die sogenannten intelligenten Algorithmen erste Vorfälle erkennen, zweifelt der Ortsverband der Grünen in der Neckarstadt an der Wirkung der Kameras. „Beliebte öffentliche Plätze brauchen keine Überwachung. Schlägereien und Raubüberfälle werden dort von den Bürgern gemeldet. Diebstahl und Drogendelikte können die Algorithmen nicht entdecken“, sagt Johannes Schuler. Der Grünen-Sprecher kritisiert scharf den Vorstoß von Sicherheitsdezernent Christian Specht, der sich für eine Änderung des Polizeigesetzes ausspricht.
Im Rathaus bestätigt man auf „MM“-Nachfrage, dass Stadt und Polizeipräsidium zurzeit prüfen, ob die Kameras dauerhaft filmen dürfen und so „an bestimmten Orten, die Gefahrenpotenzial aufweisen, auf Grundlage einer Änderung im Landespolizeigesetz auch eine ,gering-invasive’ automatisierte Bildauswertung zulässig sein kann“. Zurzeit ist laut Gesetz eine Überwachung nur an Orten erlaubt, die nachweislich eine hohe Kriminalität aufweisen. Sinkt die Kriminalität dadurch, müssen die Kameras wieder abgeschaltet werden. „Wenn die trotzdem weiter filmen, ist das ein fadenscheiniger Anlass“, sagt Schuler. Widerstand gibt es auch von der linksliberalen Gruppe „George Orwell Ultras“. Die Aktivisten hatten im Mai 2019 mit Sturmhauben gegen die Überwachung auf dem Alten Meßplatz protestiert. „Das ist kein gefährlicher Ort. Hier werden Kinder ohne Anlass von unzähligen Kameras gefilmt“, erklärt ein Sprecher der Gruppe. Den Aktivisten geht die großflächige Überwachung zu weit. Sie wollen sich mit einer Aktion im September den kamerafreien Raum zurückerobern.
Unter Technik-Liebhabern ist die Überwachung umstritten: „Mit modernster Technik soziale Probleme zu lösen, klappt nicht“, sagt Steffen Haschler vom Chaos Computerclub (CCC) Mannheim. Der deutsche Verein von Hackern ist maßgebend in Fragen der Computersicherheit. Hier weiß man: Algorithmen lassen sich austricksen, blinde Flecken leicht finden, gelöschte Daten wiederherstellen. „Kein System ist zu 100 Prozent sicher“, sagt Haschler. Der CCC warnt vor dem sogenannten Chilling-Effekt: Wer gefilmt wird, verhalte sich anders, Täter könnten ihre Bewegungen so anpassen, dass die Algorithmen sie nicht erfassen.
Verbrecherjagd mit Bildauswertung
- Das Computerprogramm, vom Fraunhofer-Institut in Karlsruhe entwickelt, wertet alle Bilder elektronisch aus. Die Aufnahmen der 68 Kameras werden verschlüsselt zum Lagezentrum der Polizei geleitet.
- Die Software soll im Idealfall hektische und untypische Bewegungen wie etwa Schlagen, Fallen oder Rennen erkennen. Dabei werten intelligente Algorithmen die Bewegungen der Passanten aus, indem sie ein abstraktes Skelett der Gefilmten erstellen und die Winkel der Gliedmaßen sowie die Schnelligkeit der Bewegung auswerten.
- Um Fehlalarme zu vermeiden, trainieren Beamte die Software anhand von Aufnahmen mit 20 Kameras.
- Das Ziel: Nur wenn die Algorithmen einen Vorfall melden, schaut sich ein Beamter die verdächtige Szene auf dem Bildschirm an und schickt nach Prüfung eine Streife los. Ansonsten sitzt er vor schwarzen Monitoren.
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