Justiz - Gutachter und Daimler-Ingenieur sagen im Prozess um Unfall mit zwei Toten und elf Verletzten auf der A 6 bei Sandhofen aus

„Bremsassistent hat versagt“

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Simone Jakob
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Der angeklagte Lastwagenfahrer sitzt am zweiten Prozesstag im Mannheimer Amtsgericht. Das Urteil soll am 19. Dezember fallen. © Priebe

Rhein-Neckar. Ein Fehler im Bremsassistenzsystem ist die einzige plausible Erklärung für den Unfall mit zwei Toten und elf Verletzten auf der A 6 bei Mannheim-Sandhofen. Zu diesem Schluss kommt der Kfz-Gutachter im Prozess gegen einen 33 Jahre alten Lkw-Fahrer, der sich wegen fahrlässiger Tötung und Körperverletzung vor dem Amtsgericht Mannheim verantworten muss. Allerdings habe auch der Fahrer 3,5 Sekunden lang nicht reagiert, so bremste Artur E. erst eine Sekunde vor dem Aufprall. Da sei der Sattelzug noch 85 Stundenkilometer schnell gewesen. Ob der Bremsassistent bei dem Unfall am 9. Juni 2017 eingeschaltet war, kann der Experte indes nicht mit Sicherheit sagen.

Sattelzug arbeitete mit Radar

Der stämmige Fernfahrer im hellblauen Sweatshirt sitzt zusammengesunken auf der Anklagebank und blickt nur ab und zu auf. Beim Prozessauftakt hatte Artur E. betont, dass sein Notbremssystem eingeschaltet war und ihn mittels lautem Ton und Blinken vor einer Kollision gewarnt habe. Gebremst habe es indes nicht. Diese Version hält ein Entwicklungsingenieur des Lastwagenherstellers Daimler für plausibel. Im Zeugenstand erklärt der für die Programmierung der Software zuständige Ingenieur, dass das System des Unfall-Lkw mit Radar arbeitete: „Wenn der Radar ein Objekt nicht sicher genug erkennt, leitet er keine Notbremsung ein – das wäre viel zu gefährlich, weil wir durch unkontrollierte Bremsvorgänge selbst schwere Unfälle auslösen würden.“ Wenn an einem Stauende zwei Autos auf derselben Höhe genau nebeneinanderstehen, verwischten sich die Informationen für den Radar, der ja kein Bild wahrnehme, sondern aus den gemessenen Daten ableiten müsse, was da vor ihm stehe. „Dann ist das ein Systemfehler“, hakt die Vorsitzende Richterin Gabriele Schöpf nach. „Eher die Systemgrenze“, will der Daimler-Ingenieur das Wort „Fehler“ nicht gelten lassen.

Die Staatsanwaltschaft war davon ausgegangen, dass der Lkw-Fahrer den Bremsassistenten absichtlich abgeschaltet hatte, um schneller voranzukommen. Das hält der Zeuge für ausgeschlossen: „Es gibt keine ausgelesenen Daten, die das bestätigen.“ Zudem seien Notbremsassistenten – firmeninternen Untersuchungen zufolge – in 98 Prozent aller Fälle eingeschaltet. „Wenn, dann machen Fahrer den Abstands-Tempomaten aus, damit sie im Stau näher an den Vordermann heranfahren können, doch das sind zwei getrennte Systeme, die oft verwechselt werden.“

Ein Beamter der südhessischen Verkehrspolizei, der für die Auswertung digitaler Lkw-Daten zuständig ist, hat am Unfalltag an dem Lastwagen nichts Auffälliges festgestellt. Allerdings habe es am Tag zuvor eine Lücke in den Fahrerdaten gegeben. Eine Stunde lang sei der Laster „alleine gefahren“, weil die Fahrerkarte eine Pause anzeigte, obwohl der Lkw laut Aufzeichnungen des Fahrzeug-Kontrollgeräts in Bewegung war.

Zudem hat der Beamte in seinem Bericht festgehalten, dass einige Steckplätze im Sicherungskasten des Cockpits leer waren. Bisweilen versuchten Trucker, Probleme mit ihren Ruhezeiten zu „berichtigen“, indem sie das Kontrollgerät vom bordeigenen Stromnetz abhängen. „Doch das hätte man beim Auslesen der Daten erkannt“, ergänzt der Beamte. Nach Aussage des Kfz-Gutachters gab es aber keine Fehlermeldung, die darauf hindeutet. „Das Versagen des Bremsassistenten hat die Ursache des Unfalls gesetzt.“

Schwere Depressionen

Warum er nicht früher reagiert hat, kann Artur E. selbst nicht erklären. Im Zeugenstand nennt der Chef der Spedition den 33-Jährigen einen „sehr gewissenhaften Fahrer“. Im betriebseigenen, GPS-gesteuerten Kontrollsystem sei er nie durch Verstöße aufgefallen. „Ich habe keine Bedenken gehabt, ihn wieder für mich fahren zu lassen“, betont er. Nach dem Unfall war Artur E. wegen schwerer Depressionen stationär behandelt worden. Laut Krankenakte habe er sich wegen seiner Schuldgefühle das Leben nehmen wollen.

Artur E.’s vorsichtige Entschuldigung prallt bei dem einzigen Familienmitglied, das nicht im Unfallauto saß, ab: „Meine Schwester war schwanger, als sie bei dem Unfall gestorben ist, meine Mutter ist auch tot und mein Vater ist ein Pflegefall“, schluchzt der Nebenkläger. Die Entschuldigung nehme er zur Kenntnis – annehmen könne er sie nicht. „Er hatte so lange Zeit dafür, jetzt möchte ich es nicht mehr.“

§ 222 StGB: Fahrlässige Tötung

  • Fahrlässige Tötung ist in § 222 des Strafgesetzbuchs geregelt. Demnach macht sich ein Verkehrsteilnehmer dann strafbar, wenn er durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht. Der Täter wird mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren bestraft.
  • Der Tatbestand ist dann erfüllt, wenn der Täter die Tötung durch eine pflichtwidrige Vernachlässigung der im Verkehr gebotenen Sorgfaltspflicht verursacht.
  • Das Maß der erforderlichen Sorgfalt richtet sich objektiv nach den Umständen des Einzelfalles und subjektiv nach den persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten des Täters.
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Viernheimer Dreieck: A 6 nach Unfall mit zwei Toten voll gesperrt

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