Berlin. Es klingt wie eine Welt, die auf dem Kopf steht. Früher zogen Kreuzberger gegen Kapital und Konzerne auf die Straße, der erste McDonald’s im Kiez wurde mit Steinen beworfen. Jetzt wird wieder gekämpft. Doch die Fronten haben sich verschoben. Kreuzberger Linke und Alternative werfen sich für einen Aldi-Supermarkt in die Bresche. Es wird demonstriert und diskutiert. Bei einer Debatte fliegen fast die Fäuste. Doch es geht um mehr: den Kampf um ein ganzes Stadtviertel.
Der kleine Aldi-Markt ist Mieter in der Markthalle Neun im östlichsten Teil Kreuzbergs, nahe der früheren Berliner Mauer. Ihm wurde gekündigt, ein Drogeriemarkt soll folgen. Ein Teil der Anwohner fühlt sich düpiert. Es gehe um eine „bezahlbare Grundversorgung“ in der Umgebung, steht auf Flugblättern. Kreuzberg ist inzwischen einer der teuersten Stadtteile Berlins. Und die Mieten steigen weiter. Die alte Markthalle aus dem 19. Jahrhundert wird seit 2011 von drei jungen Männern betrieben.
Der Bau aus Stein und Eisenkonstruktionen in der Eisenbahnstraße beherbergt teure Bio-Gemüsestände und kleinere Restaurants. Außerdem einen Edel-Metzger, Bio-Bäcker, eine Gin-Theke, einen Käsestand und drei Weinbars, eine davon mit Austern. Am Wochenende stehen Studenten und Touristen Schlange. Es gibt überfüllte Käse-, Wurst- und Dessert-Veranstaltungen mit Eintritt und Partystimmung.
Angst vor Verdrängung
Bei der Diskussion zwischen Betreibern, ihren Unterstützern und den Pro-Aldi-Kämpfern Anfang der Woche schwankt die Stimmung zwischen gereizt und offen aggressiv. „Eine Halle nur für Besserverdiener“, ruft ein Mann in die Menge. Und ein Mitglied einer Anwohnerinitiative betont: „Viele Menschen haben nie gesagt, wir lieben Aldi, aber wir stehen hier für eine Grundversorgung.“ Tosender Applaus. „Wir wollen weiter in der Halle einkaufen“, fordert eine Initiative. Es müsse Schluss sein mit Touristen-Veranstaltungen und einer Luxus-Lebensmittel-Halle.
Es geht nicht nur um Aldi gegen Austern, Dosenbier gegen Gin, billiges Schnittbrot gegen teures Biobrot. Das wissen auch die Betreiber der Halle, die von den Ängsten und Aggressionen aber völlig überrascht wurden, wie sie sagen. „Wir teilen die Ängste vor Verdrängung und einer grassierenden Gentrifizierung“, betonen sie immer wieder. Was Gentrifizierung bedeutet, haben viele Berliner in den vergangenen Jahren gelernt: Aus günstigen Wohnungen wurden sanierte Unterkünfte für Besserverdiener, aus Kiezkneipen wurden Bioläden.
Mitbetreiber Nikolaus Driessen, sagt aber auch: „Wir wollen ein Ort sein für eine neue Lebensmittelkultur.“ Essen sollte nachhaltig und gesund sein. „Und wo soll das funktionieren, wenn nicht hier in Kreuzberg?“ Unterstützung bekommen die Betreiber vom Kreuzberger Sterne-Restaurant Nobelhart&Schmutzig. „Die Menschen wissen gar nicht, wie schön essen sein“ könne, schrieben die Sterneköche auf Facebook. Schuld daran seien auch die Discount-Supermärkte.
Wie geht es weiter? Eine Rücknahme der Kündigung von Aldi lehnen die Markthallen-Betreiber weiter ab. Der Diskussionsprozess soll aber weitergehen. Das gilt auch für spezielle Veranstaltungen wie einen Oster-Naschmarkt und eine „Makrelenkonserven-Verkostung“ einer japanischen Firma Ende April.
Doch selbst das Verschwinden des umstrittenen Aldi würde die Versorgung mit billigen Lebensmitteln nicht einbrechen lassen: 200 Meter von der Markthalle entfernt steht ein Lidl-Supermarkt.
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