Im Strudel der Digitalisierung

Von 
Eileen Blädel
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Informationsflut am Arbeitsplatz - wer leistungsfähig bleiben will, muss Grenzen setzen und auch mal konsequent abschalten von der Arbeit.

© Fotolia/Konstantin Hermann, Universität heidelberg

Harmonie zwischen Arbeit und Privatleben: "Das ist kein Mythos", sagt Karlheinz Sonntag, Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Universität Heidelberg. Ein gutes Verhältnis zu finden, das wird in einer zunehmend digitalisierten Berufswelt nur schwieriger. Denn Industrie 4.0, die Veränderungen, die die vierte industrielle Revolution mit sich bringt, treffen auf einen demografischen Wandel, der ausgerechnet jene, die diese Herausforderung schultern müssen, immer älter werden lässt. Zwischen 20 und 65 Jahre alt sind die potenziell Erwerbstätigen, 50 Millionen Menschen waren es nach Angaben des Statistischen Bundesamts im Jahr 2013. 2060 sollen es nur noch etwa 34 bis 38 Millionen Menschen sein.

Wie sieht sie also unter diesen Voraussetzungen aus, die gesunde Arbeit von morgen? Dieser Frage hat sich ein Team von Wissenschaftlern unter der Leitung von Karlheinz Sonntag verschrieben. Ende 2015 startete ein vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördertes Vorhaben: In 30 Verbundprojekten sollen Konzepte für einen zukunftsfähigen Gesundheitsschutz entwickelt werden. Da befassen sich Münchener Sozialwissenschaftler etwa mit der Frage, wie es ist, wenn der Chef kein eigenes Büro mehr hat und Arbeitsplätze plötzlich mobil werden; in Stuttgart geht es um eine neue Form von Arbeitsteilung - nämlich der zwischen Mensch und Roboter; im nordrhein-westfälischen Würselen wollen die Wissenschaftler wissen, wie sich Pflegekräfte mit der eigenen Gesundheit und Arbeitsfähigkeit auseinandersetzen. Alle Fäden - und Ergebnisse - laufen in Heidelberg zusammen, wo die Arbeitspsychologen die Auswertung begleiten und eigene Forschung leisten.

Ein Bestandteil des bundesweit angelegten Projekts ist eine Studie, deren Ergebnisse die Heidelberger nun vorlegen: Befragt haben sie deutschlandweit 88 Geschäftsführer und Personalleiter aus 62 kleinen und mittleren Unternehmen - also ausschließlich solche, die bis zu 499 Mitarbeiter beschäftigen, überwiegend aus der Metall- und Elektrobranche. Warum gerade den Mittelständlern ein besonderes Interesse gilt, hat Sonntag schnell erklärt: "Sie sind das Rückgrat unserer deutschen Wirtschaft." Dennoch gebe es bislang nur wenig belastbare Befunde zu ihrer Situation. Von der Digitalisierung sind auch sie betroffen - und das schaffe Verunsicherung. Kleinere Unternehmen hätten weniger zeitliche und finanzielle Mittel als große, das Tagesgeschäft dominiere. Sonntag: "Und wenn man dann nicht weiß, was genau auf einen zukommt, entstehen Vorbehalte, Ängste oder gar Widerstände, Veränderungen einzuleiten - sie zu gestalten."

Die wichtigsten Erkenntnisse, die Sonntag anhand der Befragung feststellt: Es bestehe ein erheblicher Bedarf an Qualifizierung im Umgang mit digitaler Technologie - und an einer gesundheitsfördernden Arbeitsgestaltung, um die Folgen eben jener Digitalisierung aufzufangen. Zugleich reagierten Mitarbeiter mit Skepsis auf die Auswirkungen dieses Wandels. "Wenn aber Unternehmen künftig erfolgreich in der Digitalisierung unterwegs sein und für Gesundheit am Arbeitsplatz sorgen wollen, dann werden sie um Investitionen nicht herumkommen", sagt Sonntag.

Die Maschine wird den Menschen nicht komplett ersetzen. Automatisiert werden nicht ganze Berufe, sondern nur bestimmte Tätigkeitsfelder - zu diesem Ergebnis kommt auch eine Untersuchung des Zentrums für europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim. Doch die Digitalisierung schafft neue Anforderungen: "Arbeit wird anspruchsvoller, verlagert sich zu mehr kognitiven Tätigkeitsanteilen. Routineaufgaben und körperlich anstrengende Tätigkeiten werden zunehmend Roboter und Assistenzsysteme übernehmen", sagt Sonntag. Für Fachkräfte bedeutet das auch: "Die Fähigkeit zur Selbstorganisation wird stärker gefordert."

Was damit einhergeht: wachsende Verantwortung, Zeitdruck, Stress. Sonntag hat sich schon in früheren Projekten mit den psychischen Belastungen am Arbeitsplatz beschäftigt - und mit der Frage, wie diese sich so gering wie möglich halten lassen. Wenn eine älter werdende Belegschaft Ängste vor der "digitalen Omnipräsenz" und zu großer Informationsflut zeigt, dann ist es ein Mittel, Überflüssiges zu reduzieren. Weg mit der "cc-Unsitte", sagt Sonntag. Und stattdessen: E-Mail-Sperre am Feierabend sowie im Urlaub.

"Führungskräfte haben dabei eine Vorreiterrolle", sagt Sonntag. "Denn sie sind zugleich Betroffene und Gestalter des digitalen Wandels." Sie müssten die Erwartungshaltung permanenter Erreichbarkeit den Mitarbeitern gegenüber abbauen, Achtsamkeit sich selbst gegenüber vorleben, Grenzen beachten. Dinge, die man sich erarbeiten kann, wie alles andere auch: Auch für eine bessere Grenzziehung zwischen Arbeit und Freizeit haben die Heidelberger Arbeitspsychologen Trainings entwickelt.

Die Ergebnisse ihrer Interviewstudie überprüfen die Heidelberger Wissenschaftler nun in einer weiteren bundesweiten Mitarbeiterbefragung. Die im Großprojekt erarbeiteten Werkzeuge und Handlungsempfehlungen werden bis 2019 in enger Zusammenarbeit mit Unternehmen erprobt und bereitgestellt. Anleitungen, wie Beschäftigte den Umgang mit neuen Technologien meistern können - ohne dabei ihre Gesundheit zu gefährden. Ursprünglich ging es bei dem Gedanken, moderne Technologie in der Arbeitswelt einzusetzen, um Entlastung. Vielleicht steht bei Industrie 4.0 mehr denn je der Mensch im Mittelpunkt.

Karlheinz Sonntag und das Projekt

Karlheinz Sonntag ist Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Universität Heidelberg.

Außerdem leitet er das Projekt "Maßnahmen und Empfehlungen für die gesunde Arbeit von morgen" (MEgA), das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung mit 1,7 Millionen Euro gefördert wird.

Neben der Begleitung der bundesweit 30 Verbundprojekte leisten die Heidelberger Wissenschaftler eigene Forschungsbeiträge. Dazu zählt die Bedarfsanalyse für kleine und mittlere Unternehmen.

Bis 2019 sollen Leitfäden für die gesunde Arbeit von morgen entwickelt werden. ble

Redaktion

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