Mannheim. Mit einem Spezialschlüssel öffnet Karlheinz Rapp die schwere Eisentür. Dunkelheit und kühle Luft empfangen die Eindringlinge in das östliche Widerlager der Autobahnbrücke bei Mannheim-Sandhofen, das einen Teil der Konstruktion trägt. Der Elektriker bei der Autobahnmeisterei übernimmt die Führung, und das ist auch gut so. Denn ein Labyrinth tut sich nach und nach auf. Es geht die Treppe hinunter in die Fundamente der Brücke. Ohne Taschenlampen wäre es hier völlig dunkel. Eine weitere Etage tiefer liegt ein großer überfluteter Raum.
„Man weiß nicht, wozu er gedient hat“, merkt Karlheinz Rapp an. Günther Wagner steigt hinunter. Er ist Beauftragter des Landes Rheinland-Pfalz für den Westwall und nimmt an der Begehung teil, weil es in den Widerlagern verbunkerte Räume geben soll, die zur Verteidigung der Brücke gedient haben. „Hier ist es fantastisch“, ruft er. „Da sind viele Quergänge und weitere Räume.“
Von weit oben dringt gedämpftes Rumpeln in die Tiefe – Autos, die über die Brücke fahren. Graffiti zeigen, dass ungebetene Besucher hier waren. „Früher haben sich Jugendliche von den Brückengeländern abgeseilt und sind durch Luken in die Widerlager, bis wir die Öffnungen zugemacht haben“, erzählt Rapp Erstaunliches.
Kampf mit Farbkügelchen
Eine Treppe führt nach oben; die Stimmen hallen in den Gängen. Ein Mauerdurchbruch, dahinter ein Raum, in dem ein dickes Stahlrohr liegt. „Eine Gasleitung der MVV“, erläutert Rapp. „Die geht unter der Brücke durch.“ Wieder etliche kleine Räume, deren frühere Funktion niemand mehr kennt. Bunte Flecken an den Wänden: Spuren von Paintball-Spielern, die sich mit ihren „Waffen“, die mit Farbe gefüllte Kügelchen verschießen, im Dunkeln Kämpfe geliefert haben.
Über eine in die Wand einbetonierte Leiter geht es senkrecht etwa sieben Meter nach oben. Ein beklemmendes Gefühl: Es ist eng, der Rucksack schrabbt am Beton entlang. Da gilt es, ruhig zu bleiben und die Bewegungen von Armen und Beinen zu koordinieren. Dann wird es blendend hell, der Blick fällt auf den Rhein. Eine Befreiung nach der langen Wanderung im Dunkeln. Aber hier, wenige Meter unterhalb der Fahrbahn, ist es richtig laut. „Dammdamm, dammdamm“ dröhnt es, wenn ein Fahrzeug den Übergang zwischen Brücke und Widerlager passiert.
Auffallend sind hier runde Abplatzungen im Beton. Beschuss-Spuren oder die üblichen Schäden durch korrodierte Armierungseisen? Doch von Rost ist da nichts auszumachen. Was ebenfalls für Einschläge kleinerer Geschosse spricht: Südlich der Brücke überquerten amerikanische Truppen am 25. März 1945 den Rhein. Ob es Kämpfe um das Bauwerk gab, ist nicht bekannt.
Zurück ins Dunkel. Im Schein der Taschenlampen taucht das Wandgemälde einer halbnackten Frau auf. Auch Hakenkreuze haben ungebetene Besucher auf die Wände gesprüht. Laut hallen die Stimmen in dem engen Gang. Mumifizierte Höhlenspinnen hängen in ihren Netzen.
Eine Etage höher. Da ruft Günther Wagner: „Eine Gasschutztür! Die ist original, die gab es auch am Westwall. Und dahinter müssen militärische Räume liegen!“ Tatsächlich, etwa 15 Räume sind es, und neben den einst gasdichten Türen gibt es weitere Indizien für einen militärischen Zweckbau. Die Eisenträger in den Decken, mit Stahlblech in den Zwischenräumen, finden sich auch in den Bunkern des Westwalls, Hitlers zwischen 1936 und 1940 errichteter Verteidigungslinie. An den in die Wände eingelassenen Paneelenträgern sollten Holzverkleidungen angebracht werden. „Damit es die Soldaten etwas wohnlicher hatten“, meint Wagner.
Denn der Experte sieht hier Bereitschaftsräume für Mannschaften, die die Brücke bewachen sollten. Auch die aus der Wand ragenden Rohre für Lüftungsanlagen findet man in Bunkern. Selbst Löcher für Holzdübel, um die schweren Gasschutz-Lüfter befestigen zu können, fehlen nicht. Auf dem Boden liegt eine tote Taube, nicht die einzige. Das löbliche Vorhaben, in der Brücke Quartiere für Fledermäuse zu schaffen, scheiterte: Die Tiere fanden nicht mehr ins Freie.
Rätselhafte Räume
Rätsel geben die beiden kleinen Räume an den Enden des Gangs auf, die mit über 500 Kilogramm schweren, zweigeteilten Panzertüren verschlossen wurden. Günther Wagner vermutet, dass hier Munition deponiert werden sollte. Oder Sprengstoff, um beim Heranrücken des Feindes die Brücke zu zerstören: „Der muss oben gelagert werden, um schnell erreichbar zu sein. Und die Panzertüren sollten verhindern, dass bei einer ungewollten Explosion der Druck nach innen in den Flur geht.“
Nach ausführlicher Besichtigung zieht Wagner Bilanz: „Ein gewaltiges Bauwerk mit 15 Mannschafts- und zwei Munitionsräumen.“ Die anderen Brücken-Anlagen, die er kennt, sind wesentlich kleiner. Soldaten in Kompaniestärke wären hier vermutlich untergekommen, rund 120 Mann. „Aber die Räume wurden nie bezogen“, so Wagner. „Es fehlen beispielsweise Halterungen für die Betten und sonstige für Mannschaftsunterkünfte typische Einrichtungen.“ Sollten die Sprengladungen zur Zerstörung der Brücke im Ernstfall in den beiden Munitionslagern gezündet werden? Wagner erinnert an die engen Gänge mit den schmalen Nischen im oberen Bereich des Labyrinths. Sie könnten als Sprenggänge gedient haben.
Doch gab es auch Kampfräume, um die Brücke verteidigen zu können? Zur Klärung dieser Frage geht es jetzt über den Rhein, zum Widerlager auf der pfälzischen Seite. Dafür kommt ein kurioses Verkehrsmittel zum Einsatz: ein Brückenwagen. Dabei handelt es sich um eine zweigeschossige Plattform, die auf Schienen unterhalb der Fahrbahn über den Rhein gleitet. Von der Arbeitsbühne oben wird die Brücke auf Rost oder statische Schäden untersucht. Routiniert wirft Karlheinz Rapp den Motor an, löst die Bremsen. Im Schritttempo gleitet der Brückenwagen über den Rhein. „Man fährt ganz langsam, um Schäden entdecken zu können“, erläutert der Mann von der Autobahnmeisterei. Unten schwimmen Schiffe vorbei. Drüben angelangt, geht es erneut ins Dunkel.
Gänge, Räume, wieder ein Blick auf den Rhein. Graffiti. Auf einer Eisentreppe etwa sieben Meter senkrecht runter. Flure, Räume, Treppen. Ein toter Vogel. Ein langer Treppengang führt in die Tiefe, dann Endstation: Im Quergang unten steht das Grundwasser. „Das war alles“, meint Karlheinz Rapp. Ratlosigkeit. Keine Kampfräume, keine Spuren einer militärischen Nutzung.
Günther Wagner gibt zu bedenken, dass die Brücke im Dezember 1940 während des Baus eingestürzt ist und erst nach dem Krieg vollendet wurde. „Ob weitere Verteidigungsanlagen vorgesehen waren, lässt sich aus dem Bestehenden nicht ableiten“, fügt er an. „Man weiß nicht, ob die Widerlager höher werden oder ob Türme mit Kampfräumen darauf gesetzt werden sollten.“ Er hält das für möglich, denn um eine Brücke zu sprengen, braucht man weder 120 Mann noch solche Räume. „Das Sprengkommando kommt angefahren, lädt die Sprengkammern, zerstört die Brücke und ist wieder weg“, nennt Wagner eine wesentlich einfachere Alternative.
Pforte zur Freiheit
Zurück zum Brückenwagen, Rückfahrt über den Rhein. Dann durch die schon etwas vertrauten Gänge bis zur Pforte, die in die Freiheit führt, ins Sonnenlicht und in die Hitze. Karlheinz Rapp schließt die Tür, und das Labyrinth versinkt wieder in völlige Dunkelheit.
Seit dem Gang durch die Unterwelt ist mittlerweile einige Zeit vergangen. Eins hat sich seither geändert: Bei jeder Fahrt über die Brücke schweifen die Gedanken ab zu den dunklen Labyrinthen unter der Fahrbahn.
Die Autobahnbrücke bei Mannheim-Sandhofen
- Der Bau der insgesamt 830 Meter langen Brücke der A 6 zwischen den Anschlussstellen Ludwigshafen-Nord und Mannheim-Sandhofen begann 1938. Nach dem Unfall am 12. Dezember 1940, als ein Montagejoch der Brücke eventuell wegen Eisgangs einstürzte und 30 Arbeiter starben, wurde der Bau eingestellt und erst 1948 wieder aufgenommen.
- Die Freigabe von zwei Fahrspuren für den Verkehr erfolgte am 9. September 1950, die Vollendung der mittlerweile nach Bundespräsident Theodor Heuss benannten Brücke erst 1964.
- Die Vorlandbrücke, auch Widerlager genannt, auf der westlichen (rheinland-pfälzischen) Seite besteht aus drei Gewölben, die auf der östlichen (baden-württembergischen) Seite aus sechs Gewölben. Ungewöhnlich: der Fuß- und Radweg der über aufwändig konstruierte Treppenaufgänge erreichbar ist. Diese weisen Formen auf, die an die römische Antike oder an den Speyerer Dom erinnern sollen.
- Gespart wurde nicht, denn die Autobahnen galten im Dritten Reich als „Straßen des Führers”. Hitler trieb zwar den Autobahnbau voran, doch die Pläne gingen auf die Zeit der Weimarer Republik zurück. Und das erste Autobahnstücke zwischen Köln und Bonn war bereits 1932 befahrbar. Doch die Nationalsozialisten schlachteten die Autobahnen propagandistisch als als ihre Erfindung aus. Mit langfristiger Wirkung: Noch Jahrzehnte nach Kriegsende war zu hören, dass Hitler ja immerhin die Autobahn gebaut hätte. Die massive Bauweise war für den Verkehr der 1930er Jahre völlig überdimensioniert, und die Verblendung mit Sandstein wie bei Sandhofen und andere Schmuckelemente verteuerten die Brückenprojekte weiter.
- Doch wie andere repräsentative Bauten des Dritten Reichs sollten die Brücken Jahrtausende überdauern, sollten „Ewigkeitswert” besitzen, weshalb ihr Stil „zeitlos” sein musste. Selbst als Ruinen sollten sie von der Größe des „Tausendjährigen Reiches” zeugen, so wie die Reste der römischen Großbauten von der Macht des Imperium Romanum. kb
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